Samhain – Wenn das Jahr seine letzte Ernte atmet
Wenn der Nebel morgens, wenn ich mit Aila spazieren gehe, tief über den Feldern liegt und die Luft nach Erde und feuchtem Laub riecht, dann spüre ich jedes Jahr: Etwas kehrt heim. Die Natur zieht sich in sich selbst zurück, und auch in mir entsteht dieses leise Bedürfnis, still zu werden, auszumisten, nach innen zu gehen.
Jetzt beginnt Samhain – die Schwellenzeit zwischen den Welten, das alte keltische Neujahrsfest. Es ist das Tor zwischen Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, zwischen dem, was war, und dem, was kommen will.
Samhain – gesprochen Sow-in – ist eines der ältesten Feste im europäischen Jahreskreis. Es markierte für die Kelten den Beginn des neuen Jahres und den Übergang in die dunkle Jahreshälfte.
Alles, was jetzt geschieht, trägt die Qualität des Loslassens. Die Ernte ist eingebracht, die Felder liegen brach. Das Leben kehrt in die Erde zurück, in den Schoß der Dunkelheit, wo Neues entstehen kann.
Samhain liegt zwischen der Herbst-Tagundnachtgleiche und der Wintersonnenwende. Es ist die Zeit, in der der Schleier zwischen dieser Welt und der Anderswelt besonders dünn ist. Man glaubte, dass die Seelen der Verstorbenen in diesen Tagen zurückkehren, um ihre Familien zu besuchen.
In den Häusern wurden Kerzen entzündet, Speisen aufgestellt und Gebete gesprochen – nicht aus Angst, sondern aus Liebe und Dankbarkeit. Samhain war nie ein trauriges Fest, sondern eine Feier des Lebens in all seinen Formen.
Ahnenzeit – Erinnerung und Wurzelkraft
Diese Tage gehören den Ahnen. In vielen alten Kulturen finden wir um dieselbe Zeit ähnliche Rituale – der Día de los Muertos in Mexiko, das Lichterfest Diwali in Indien oder Allerheiligen in der christlichen Tradition.
Alle tragen denselben Kern: das Licht in der Dunkelheit zu bewahren und jene zu ehren, die vor uns gegangen sind.
Ich finde es tröstlich, dass sich dieses Wissen überall auf der Welt zeigt – in Farben, Tänzen, Gebeten oder Stille. Es erinnert uns daran, dass der Tod kein Ende ist, sondern Teil des großen Kreislaufs.
Wenn ich in dieser Zeit eine Kerze entzünde, denke ich an meine Großmutter – an ihr Lachen, an ihre Hände, an alles, was durch sie in mir weiterlebt. So wird Erinnerung zu Wurzelkraft.
Der Sinn von Samhain heute
n unserer schnellen Welt ist Samhain wie ein Gegengewicht. Es ruft uns dazu auf, langsamer zu werden, loszulassen, was zu viel geworden ist. Es erinnert uns daran, dass nicht alles ständig wachsen muss.
Dass Rückzug, Stille und Dunkelheit genauso Teil des Lebens sind wie Licht, Freude und Neubeginn.
Gerade im Jahr 2025 – in dem viele spüren, dass äußeres Tempo nicht mehr trägt – wirkt Samhain wie eine Einladung, zurückzukehren zu dem, was wirklich zählt: Verbundenheit, Einfachheit, Bewusstsein.
Es ist der Moment, alte Häute abzustreifen. Nicht mit Gewalt, sondern mit Vertrauen.
Denn das Loslassen selbst ist Teil des Werdens.
Samhain war früher ein großes Feuerfest. Heute entzünden viele Menschen stattdessen Kerzen – kleine Flammen der Erinnerung. Sie leuchten in Fenstern, auf Altären, an Gräbern oder einfach auf dem Küchentisch.
Ihre Bedeutung bleibt dieselbe: Licht in der Dunkelheit halten.
Ein einfacher Weg, Samhain zu feiern, ist ein Ahnenaltar.
Du kannst ihn schmücken mit herbstlichen Symbolen – Äpfeln, Granatäpfeln, Nüssen, Trockenblumen oder einem Foto von jemandem, den du ehren möchtest.
Zünde eine Kerze an und sprich ein paar Worte der Dankbarkeit. Vielleicht nur: Danke, dass ihr vor mir gegangen seid. Danke, dass ihr mich führt.
Mancherorts wird noch heute das „Stille Mahl“ gefeiert – ein Abendessen in Stille, bei dem ein Platz für die Ahnen frei bleibt.
Man isst bewusst, schweigend, mit dem Gefühl, dass die Verbindung über Zeit und Raum hinaus spürbar ist.
Samhain gilt auch als die Nacht der Orakel und Träume. Karten, Runen oder Intuition – alles, was aus der Tiefe spricht, ist jetzt besonders klar. Wenn du magst, stelle eine einfache Frage:
Was darf ich jetzt loslassen?
Was möchte durch mich neu geboren werden?
Lausche der Antwort. Sie kommt oft nicht durch den Verstand, sondern über Zeichen, Bilder, Begegnungen.
Im Kern ist Samhain kein Fest des Todes, sondern ein Fest der Wandlung.
Es erinnert uns an das große Gesetz des Lebens: dass alles, was vergeht, in anderer Form weiterlebt.
Dass jedes Ende den Anfang in sich trägt. Und dass Dunkelheit nichts Bedrohliches ist, sondern der Raum, in dem Neues keimt.
Samhain ruft uns auf, das Unsichtbare zu ehren – unsere Ahnen, unsere Träume, unsere unbewussten Schichten.
Und es erinnert uns daran, dass wir Teil einer viel größeren Geschichte sind.
Wie du Samhain spüren kannst
Du musst kein Ritual planen. Samhain beginnt, wenn du still wirst.
Wenn du eine Kerze anzündest, durch den Nebel gehst oder einfach atmest und spürst: Das Jahr wird still.
Vielleicht schreibst du auf, was du loslassen möchtest, oder sammelst Samen für das, was im nächsten Zyklus wachsen darf.
Samhain ist ein innerer Akt – ein leises „Ja“ zur Dunkelheit, ein Einverständnis mit dem, was ist.
Auch ist für mich Samhain weniger ein Fest im Kalender, sondern eher ein Zustand im Herzen, der auch länger andauern kann.
Oft sind das Momente, in denen wir erkennen, dass alles miteinander verwoben ist: Vergangenheit und Gegenwart, Licht und Schatten, Werden und Vergehen.
Wenn Du in diesen Tagen eine Kerze anzündest, tu es mit dem Wissen, dass Du Teil dieses großen Kreislaufs bist.
Dass Leben und Tod, sichtbar und unsichtbar, sich in dir begegnen.
Und dass das wahre Licht immer dort beginnt, wo wir still werden.
Von Herz zu Herz
Dorothea
Instagram: @dorothearupprecht